Die folgenden Aufsätze:
"Montessori-Pädagogik - Das Konzept der Erziehung in Elternhaus, Kindergarten und Grundschule"und"Profil der Montessori-Pädagogik und ihrer Einrichtungen"
| |
I. Barbara Stein und Fachgruppe "Theorie" der Dozentenkonferenz der deutschen Montessori-Vereinigung e.V., Stand 2003:Montessori-Pädagogik - | |
1. Das Lebenswerk Montessoris | |
Maria Montessori, geboren in Italien, lebte von 1870 - 1952. Sie war Ärztin und Pädagogin. | |
![]() |
Maria Montessori als junge Ärztin im Alter von 28
Jahren |
| |
![]() |
Maria Montessori, 80-jährig, bei einer
Rundfunkaufnahme |
| |
2. Das Kind von 0 - ca. 11 Jahren und der Erziehungsprozess | |
Das Kind wird geboren mit dem Drang zu lernen und zu wachsen. Sein spontanes Bedürfnis, sich aktiv mit der Umwelt auseinander zu setzen, führt zu Erkenntnisprozessen, die seine Persönlichkeit bilden. Es erlebt sein Wachstum mit großer Freude, sofern es von einfühlsamen Erwachsenen begleitet wird und in einer anregenden Umwelt lebt. Der Erziehungsprozess ist im Wesentlichen ein Selbsterziehungsprozess. "Hilf mir, meine Arbeit selbst zu tun", ist zu einem Leitwort der Montessori-Pädagogik geworden. Der Satz bezeichnet treffend die beiden Komponenten von Erziehung, wie Montessori sie sieht: Die Erwachsenen schaffen die Bedingungen, die das Kind braucht, damit es durch eigene Kraft seinen Wachstums- und Bildungsprozess vorantreiben kann. | |
![]() | |
Montessori entdeckte, dass bereits kleine Kinder zu tiefer Konzentration auf eine Sache fähig sind und dadurch zu wesentlichen Erfahrungen mit dieser Sache wie mit sich selbst kommen. Deswegen ist die Konzentration "von größter Wichtigkeit für das innere Wachstum". Denn in der "Polarisation der Aufmerksamkeit" setzt sich das Kind mit den Dingen und Erscheinungen seiner Umwelt auseinander, lernt sie verstehen und ordnet sie in sein Denken ein. Dabei gewinnt es nicht nur Wissen und Einsichten, sondern auch Selbsterkenntnis und Selbstvertrauen. Deswegen müssen die erzieherischen Bemühungen darauf zielen, spontane Konzentrationsprozesse zu ermöglichen, zu erhalten und zu vertiefen. Das Kind durchläuft verschiedene Entwicklungsphasen. Jede Entwicklungsphase ist durch bestimmte Sensibilitäten - Montessori nennt sie "sensible Perioden" - gekennzeichnet. In bestimmten Zeitphasen sind die Kinder besonders bereit, spezifische Fähigkeiten (Bewegung, Sprache, u.a.) optimal und leicht zu erlernen. Sie wenden sich mit intensiver Konzentration entsprechenden Bildungsanreizen zu, erwerben formale und inhaltliche Kompetenzen und prägen sie sich dauerhaft ein. So führt beim kleinen Kind (0-ca.6 Jahren) die Sensibilität für Bewegung zur Freude an allen Übungen, die zur Bewegungs-Koordination, zum Be-greifen der Umwelt und zur Selbst-Beherrschung entscheidend beitragen. | |
![]() | |
| |
... will seine Interaktionen ausweiten; die Gruppe wird wichtig. Es ist sensibel für Fragen, die sich auf Gerechtigkeit und Moral beziehen, es sucht nach überzeugenden Wertmaßstäben und möchte diese im Leben der Gemeinschaft erkennen und einüben. Aufgrund der beginnenden Abstraktionsfähigkeit möchte das Kind Ursachen und Wirkungen von Naturerscheinungen erforschen. Die wachsende Vorstellungskraft vermag in immer weitere Zusammenhänge unseres Kosmos einzudringen. Das Kind interessiert sich für das Erlernen der Schriftsprache (Lesen, Schreiben, sprachliche Strukturen) und das Erfassen von Mathematik. Sensible Phasen sind an
bestimmte Entwicklungsstufen geknüpft und von vorübergehender Dauer. Es
ist Aufgabe der erziehenden Personen durch genaue Beobachtung zu
erkennen, welche Aspekte der Umgebung sich das Kind für das Lernen
besonders intensiv nutzbar machen kann. Die verschiedenen pädagogischen
Einrichtungen orientieren sich an den Lernbedürfnissen der jeweiligen
Entwicklungsstufe, damit sie durch entsprechende Angebote bestmöglich
darauf antworten können. | |
3. Montessori-Erziehung in Elternhaus, Kinderkrippe oder Spielgruppe | |
| |
![]() | |
Sie regen es zu Tätigkeiten an, indem sie geeignetes Spielzeug oder andere Dinge bereitstellen, seinen Spiel- und Arbeitszyklus achten und darin seinen Selbsterziehungsprozess erkennen. Sie sorgen für Kontakte mit anderen Kindern und mit der Umwelt und sie erfreuen sich an seinen Lernfortschritten. | |
4. Das Kinderhaus | |
| |
![]() |
Eine Erzieherin zeigt, wie man eine Schleife bindet. |
Das kindliche Interesse an Bewegung (Montessori, Maria, "Kinder sind anders", dtv München 1992, S. 103) und aktiver Nachahmung (Montessori, Maria, "Das kreative Kind", Freiburg 1972, S. 151 Holtstiege, Hildegard, "Modell Montessori", Freiburg 1994, S. 94f.) findet in den "Übungen des täglichen Lebens" vielfältige Handlungsmöglichkeiten. | |
![]() Beispiel für eine "Übung des täglichen Lebens": |
![]() Kerze anzünden und wieder löschen |
Das "Sinnesmaterial" (Montessori, Maria, "Die Entdeckung des Kindes", Freiburg 1997, S. 112f; Holtstiege, Hildegard, "Modell Montessori", Freiburg 1994, S.101f) korrespondiert mit der Freude an sensorischen Reizen, verfeinert die Sinneswahrnehmung und regt zur Erforschung von grundlegenden Ordnungskategorien an. Es ist ein "Schlüssel zur Welt" (Montessori, Maria, "Grundgedanken der Montessori-Pädagogik", Freiburg 1967, S. 33), der es den Kindern erlaubt, aufgenommene Eindrücke zu verarbeiten und zu ordnen. | |
![]() |
Arbeit mit den
Farbtäfelchen |
| |
5. Die Grundschule | |
Freiarbeit und Fachunterricht
werden ergänzt durch Unterrichtsgänge, Klassen- und Schulfeiern,
Gottesdienste und Klassenfahrten. | |
![]() |
Ein wesentlicher Faktor ist dabei die Gestaltung der
Lernumgebung. Diese wird bestimmt durch das Interesse des Grundschulkindes
|
- an Sprache, insbesondere an geschriebener Sprache, | |
![]() |
Arbeit mit Lesekarten zum
Themenbereich Tier |
|
|
![]() |
Die Arbeit mit dem goldenen
Perlenmaterial und dem Kartensatz ermöglicht Erfahrungen mit dem
Dezimalsystem |
Die Freiarbeits-Materialien wie auch der gebundene Unterricht zu den Sachgebieten der Grundschule (Mathematik, Deutsch, Englisch, Sachunterricht, Kunst, Musik, Religion, Sport) korrespondieren mit den Lehrplänen des Landes. Die Arbeit in der Grundschule muss dem Gedanken folgen, dass Bildung keine Anhäufung von einzelnen Kenntnissen ist, sondern nur durch das Erfassen von Zusammenhängen erreicht wird. Das Bewusstsein vom Zusammenwirken aller Dinge und allen Lebens in der Gesamtheit des Universums soll auf die Übernahme von Verantwortung für eben dieses Universum vorbereiten (Montessori, Maria, "Kosmische Erziehung", Freiburg 1988, S. 19f); Montessori bezeichnet diesen für sie zentralen Erziehungsaspekt als "Kosmische Erziehung". (Montessori, Maria, "Kosmische Erziehung", Freiburg 1988, S. 19f) Der Sensibilität des
Grundschulkindes für soziale Beziehungen und moralische Fragen
(Montessori, Maria, "Kosmische Erziehung", Freiburg 1988 S. 38f) wird
Rechnung getragen, indem die Lehrpersonen partner- und gruppenbezogenem
Lernen Raum geben und auf eine "geistige" vorbereitete Umgebung achten, in
der sich das moralische Bewusstsein des Kindes bilden und seine
Urteilsfähigkeit im Hinblick auf sozial gerechtes Handeln wachsen
kann. | |
![]() |
Freiarbeit in einer altersgemischten Klasse: Ein
Erstklässler lernt lesen, Viertklässler erarbeiten sich das
Planetensystem. |
| |
6. Die didaktischen Mittel | |
=> Das Material korrespondiert mit der kindlichen Entwicklungsstufe und seiner spezifischen Sensibilität. | |
![]() |
"Sinnesmaterial" aus dem Kinderhaus: |
=> Es erlaubt eigenaktives und eigenständiges Arbeiten. => Es zeichnet sich durch Sachgerechtigkeit und klare Struktur aus. | |
![]() |
Übungen zum Dezimalsystem auf drei verschiedenen Schwierigkeitsstufen: Goldenes Perlenmaterial mit Kartensatz, Markenspiel und kleiner Rechenrahmen. |
=> Auch abstrakte Sachverhalte sind anschaulich repräsentiert und können handelnd begriffen werden. | |
![]() |
Beispiel Sprache:
|
=> Die zu jeder Übung
gehörende Fehlerkontrolle ermöglicht es dem Kind, seine Arbeitsergebnisse
eigenständig zu überprüfen. | |
![]() |
Regal mit Übungen des täglichen Lebens |
=> Das Material ist vollständig, ästhetisch ansprechend gestaltet und nach Bereichen geordnet. => Jedes Material ist nur einmal oder in sehr begrenzter Anzahl in der Klasse vorhanden, was die gegenseitige Absprache unter den Kindern fördert. Nicht jedes Thema kann adäquat durch ein Material dargestellt werden. => Auch spannendes Erzählen oder Vorlesen sowie das engagierte Gespräch gehören zu den didaktischen Mitteln. | |
![]() | |
7. Freiheit und Begrenzung | |
Die Sensibilität für den Erwerb bestimmter Kompetenzen kann sich erst auswirken, wenn dem Kind in der vorbereiteten Umgebung die Freiheit gegeben wird, M. Montessori versteht unter Freiheit niemals ein bloßes Gewährenlassen. "Freiheit bedeutet nicht, 'dass man tut, was man will', sondern Meister seiner selbst zu sein." (Montessori, Maria "Grundgedanken der Montessori-Pädagogik", Freiburg 1967; Holtstiege, Hildegard, "Modell Montessori", Freiburg 1994, S.16) Dazu gehört es, Verhaltensregeln einhalten zu können, die ein geordnetes Arbeiten des Einzelnen wie der Gruppe gewährleisten. | |
8. Eltern, Erzieher(innen), Lehrer(innen) | |
Bezugspersonen, Erzieher(innen) und Lehrer(innen), vor allem aber die Eltern sind im Selbsterziehungsprozess des Kindes von entscheidender Bedeutung. Das Kind braucht ihre Liebe und Einfühlsamkeit, ihr Wissen und ihre Autorität. Die Erwachsenen interpretieren die kindlichen Bedürfnisse und schaffen die Bedingungen, die das Kind für seine Persönlichkeitsentwicklung braucht (Holtstiege, Hildegard, "Erzieher in der Montessori-Pädagogik", Freiburg 1991; Stein, Barbara, "Theorie und Praxis der Montessori-Grundschule", Freiburg 1998, S.24 f). | |
9. Montessori-Sekundarstufe> | |
erarbeitet von Prof. Dr. Hans
Dietrich Raapke, Universität Oldenburg, und der Fachgruppe "Theorie" der
Dozentenkonferenz der deutschen Montessori-Vereinigung e.V., Stand
2003, | |
II. Prof. Dr. Hans Dietrich Raapke, Universität Oldenburg und die Fachgruppe "Theorie" der Dozentenkonferenz der deutschen Montessori-Vereinigung e.V., Stand 2003: >Profil der Montessori-Pädagogik und ihrer Einrichtungen | |
0. Leitgedanken | |
Leitgedanken: |
|
1. Montessori-Pädagogik hat einen hohen Grad an Internationalität und vergleichbaren Qualitätsstandards. 2. Montessori-Pädagogik ist Friedenspädagogik über alle sozialen, religiösen und ethnischen Grenzen hinweg. 3. Montessori-Pädagogik fordert und fördert individuell Intelligenz und kreatives Problemlöseverhalten. Sie erzieht zu Selbständigkeit und Unab-hängigkeit. 4. Die pädagogischen Einrichtungen müssen sich nach der Entwicklung der Kinder richten, weil sie sonst die Kinder (aus dem Blick) verlieren. 5. Nach Montessori - Prinzipien sind alle pädagogischen Einrichtungen "Erfahrungsschulen des sozialen Lebens" und keine Buchschulen, wenngleich es dort viele Bücher gibt. 6. Einrichtungen der Montessori-Pädagogik sind für alle Kinder und Jugend-lichen da: Lernschwache und Hochbegabte, Behinderte und Nichtbehinderte, Einheimische und Einwanderer, Arme und Reiche. 7. Montessori-Schulen sind Leistungsschulen, weil Kinder und Jugendliche etwas leisten wollen, wenn man ihnen viel an Anregungen bietet und sie selbstständig arbeiten lässt. 8.
Montessori-Schulen halten auf allen Stufen dem Leistungsvergleich mit
Regelschulen stand, oft schneiden sie besser ab. | |
1. Verbreitung der Montessori-Pädagogik | |
Die Montessori-Pädagogik geht auf die italienische Ärztin und Pädagogin Maria Montessori (1870-1952) zurück. Sie hat dieses Konzept ursprünglich aus ihrer Tätigkeit als Ärztin und dann als Pädagogin kontinuierlich bis ins hohe Alter entwickelt und überprüft. In zahlreichen Ausbildungskursen hat sie interessierte Pädagoginnen und Pädagogen aus verschiedensten Ländern für ihre Ideen gewonnen. Einerseits ist diese Pädagogik auf große Zustimmung und vielfach Begeisterung gestoßen, andererseits begann auch schon früh der Streit über diese Erziehungsvorstellungen. Montessori selbst war vor allem nachdrücklich auf die Wahrung der von ihr aufgestellten pädagogischen Prinzipien und Standards bedacht. Maria Montessoris in der Regel längerfristige Ausbildungskurse und viele Vortragsreisen in fast alle Kontinente sowie ihre Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten haben zu einer weltweiten Verbreitung der Montessori-Pädagogik geführt. Wohl kein an die Ideen einer Person gebundenes pädagogisches Konzept ist international so weit verbreitet wie die Montessori-Pädagogik. Montessori-Gesellschaften in aller Welt arbeiten in der 1929 von Maria Montessori und ihrem Sohn Mario gegründeten "Association Montessori Internationale" (AMI) , Sitz in Amsterdam, zusammen. In Deutschland gibt es nach den Erhebungen deutscher Montessori-Vereinigungen zur Zeit (2002) etwa 950 vorschulische und schulische Einrichtungen der Montessori-Pädagogik. Davon sind gut die Hälfte Vorschuleinrichtungen (Kinderhäuser), von denen wiederum etwa ein Drittel (135) integrativ mit behinderten Kindern arbeitet. Von den ca. 250 Montessori-Grundschulen sind 58 integrative Einrichtungen. Außerdem werden Montessori-Hauptschulen, -Sonderschulen, -Gymnasien, -Realschulen und -Gesamtschulen sowie sonstige Einrichtungen genannt. Die jeweils höchste Zahl von Montessori-Einrichtungen findet sich in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Bayern. Die Montessori-Einrichtungen befinden sich teils in öffentlicher, teils in privater Trägerschaft (Vgl. Schatz, Helga L.: Aktionsgemeinschaft Deutscher Montessori-Vereine e.V. In: Hansen-Schaberg, Inge/ Schonig, Bruno (Hg.): Montessori-Pädagogik, Basiswissen Pädagogik Bd.4, Hohengehren 2002: Ludwig, Harald/ Fischer, Christian/ Fischer, Reinhard (Hg.): Montessori-Pädagogik in Deutschland - 40 Jahre Montessori-Vereinigung e.V., Impulse der Reformpädagogik Bd.7, Münster 2002, S.11.) . Finnland, Schweden und die Niederlande haben zum Beispiel vergleichsweise ein sehr viel dichteres Netz an anerkannten Montessori-Einrichtungen aller Stufen. Insgesamt handelt es sich bei den Montessori-Einrichtungen jedoch überwiegend um Vorschulen (Kinderhäuser) und Grundschulen ("elementary schools"). Die Pädagoginnen und Leitungskräfte an Montessori-Einrichtungen müssen eine besondere Ausbildung (ca. 300 Stunden) absolvieren, für die nach einer Prüfung gemäß den Richtlinien der Association Montessori International (AMI) ein Diplom erteilt wird. Dadurch sehen sich alle Montessorischulen ähnlich, sei es in Bangalore, Chicago oder Köln. Immer finden Kinder und Eltern gleiches didaktisches Basismaterial und ähnliche Grundmuster der Pädagogik vor. Das hat der Montessori-Pädagogik einen hohen Grad von Internationalität und vergleichbare Qualitätsstandards verschafft. In Deutschland ist die Montessori-Pädagogik von den Nationalsozialisten ab 1933 verboten worden, in Italien sind die Montessori- Schulen nach einem kurzen Versuch Maria Montessoris, sie unter der faschistischen Regierung zu halten, 1934 geschlossen worden, in Spanien 1936 bei Ausbruch des Bürgerkrieges. In Russland hat es bis zur Diktatur Stalins Montessori-Einrichtungen und eine rege Diskussion gegeben. Länder der ehemaligen Sowjetunion machen jetzt ihren Nachholbedarf geltend, desgleichen zum Beispiel Polen, Tschechien und andere (Vgl. Ludwig,, Harald (Hg.): Montessori-Pädagogik in der Diskussion - Aktuelle Forschungen und internationale Entwicklungen, Freiburg 1999.) . Die Montessori-Pädagogik wird in vielen Ländern von engagierten Pädagoginnen und Pädagogen weiterentwickelt und auf die sich ändernden gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse hin eingerichtet. Unverändert aber sind die von Maria Montessori aufgestellten pädagogischen Prinzipien und ihre Haltung gegenüber den Kindern, von deren Personalität und Würde sie tief überzeugt war. | |
2. Grundsätze und Ziele | |
Maria Montessori hat sich für ihre Pädagogik in Anknüpfung an alte Traditionen europäischer Anthropologie vor allem an der körperlich-geistig-psychischen Entwicklung und an den individuellen Lernbedürfnissen der Kinder orientiert. Das ist das grundsätzlich andere in der Montessori-Pädagogik gegenüber der Regelschule, die sich in der Hauptsache dem im staatlichen Lehrplan vorgegebenen inhaltlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag gegenüber der nachwachsenden Generation verpflichtet sieht. Maria Montessori hat wie kaum ein anderer Pädagoge auf die eigenen Kräfte des Kindes vertraut, auf seinen inneren Antrieb und Willen zu wachsen und "groß" zu werden. Die Kinder werden deshalb weniger geführt, sondern von den Pädagoginnen und Pädagogen darin unterstützt, aus der Kraft ihrer eigenen Potenziale in die Gesellschaft hineinzuwachsen, ihren eigenen Weg zu finden und intelligente, leistungsfähige sowie kooperations- und hilfsbereite Menschen mit sicherem Selbstbewusstsein zu werden. Einerseits muss also jedes einzelne Kind ebenso verständnisvoll wie auch genau beobachtet werden: Wie weit ist es in seiner Entwicklung? Welche Bedürfnisse hat es - offen oder verdeckt? Wohin zielen seine Aktivitäten? Welche Angebote oder Hilfen braucht es jetzt? Ist es zurückgeblieben, finden sich Störungen wie etwa Hyperaktivität, Dyslexie, oder ist es schon weit voraus und braucht Förderung seiner Hochbegabung? Zuerst kommt also - wie bei der Kinderärztin - die Diagnose. Einer der Grundsätze der Montessori-Pädagogik heißt somit: Folge dem Kind, achte auf die Zeichen, die dir seinen Weg zeigen. Niemand kann jedoch annehmen, dass ein Kind allein, nur von sich aus den Weg in die Gesellschaft finden könnte. Dazu braucht es außer Intelligenz, Kenntnissen und Fertigkeiten auch Gemeinsinn, Bilder und Wertvorstellungen von dieser Welt. Es braucht Vorbild und Begleitung sowie Hilfe in einer pädagogisch vorbereiteten und geordneten Umgebung. Dort kann es Orientierungen finden, selbst seinen Weg zu gehen. Ein zweiter korrespondierender Grundsatz heißt deshalb: Hilf mir, es selbst zu tun. In der Montessori-Pädagogik - und keineswegs nur dort - gilt der Grundsatz, dass ein Kind das am besten lernt, was es jetzt lernen möchte. Gelegenheit dazu bietet die "freie Arbeit" (s. Abschnitt Didaktik). Der Wunsch etwas Bestimmtes zu lernen, entspringt seinem augenblicklichen Entwicklungsstand und Interessenhorizont und markiert ihn zugleich. Vom Kind selbst, von innen her, kommt der Antrieb, sich mit der Außenwelt auseinander zu setzen, sich an ihr abzuarbeiten, vielleicht sie ein Stück weit zu beherrschen. Dem Kind muss darum Raum und Zeit gelassen werden, seine selbst gewählte Arbeit auch selbständig und in Ruhe zu Ende zu führen, damit es durch das Erreichte sich selbst ("Selbstkompetenz") und seine Leistungs-fähigkeit bestätigt fühlt. Als Ziele stehen in der Montessori-Pädagogik von diesen Ausgangspunkten her nicht kanonisch fixierte inhaltliche Lernziele im Vordergrund, sondern - modern ausgedrückt - "Schlüssel-kompetenzen" wie disponieren, sprachlich kommunizieren, kooperieren, selbstverständlich in Verbindung mit fachlichen Kompetenzen. Es geht um die allmähliche Einübung des "selbstregulierten Lernens" in Verbindung mit dem Kompetenzerwerb. Den Kindern soll die Möglichkeit eröffnet werden, die Selbständigkeit, die von ihnen als Erwachsenen erwartet wird, schon frühzeitig einzuüben. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die sich Schritt um Schritt erweiternde Unabhängigkeit von den Erwachsenen und auch von anderen Kindern. Abhängigkeit von den Erwachsenen, die womöglich an den Kindern ihre eigenen Fehler korrigieren möchten, führt nach Montessori leicht zur Unterwürfigkeit und dem Anlehnungsbedürfnis an einen starken "Führer" (Vgl. dazu Montessoris berühmte Friedensrede in Genf (1932) in ihrer Schrift "Frieden und Erziehung", Freiburg 1973; S.1-25; auch in "Die Macht der Schwachen", Freiburg 1989, S.19-42). Zu den Zielen gehören auch die heute so genannten "Sozialkompetenzen" in ihren vielfältigen Ausprägungen, die Bereitschaft zu helfen und Verantwortung zu übernehmen gegenüber Menschen wie für die Erhaltung und Pflege der Natur. In der Konsequenz führt das zu dem Ziel, dass Montessori-Einrichtungen für alle Kinder offen sind: Lernschwache und Hochbegabte, Behinderte und Nichtbehinderte, Einheimische und Einwanderer, Arme und Reiche, und zwar ohne Rivalität und Selektion. Höchstes Ziel war für Maria Montessori, Kinder und Jugendliche heranwachsen zu sehen, die über alle ethnischen, nationalen und sozialen Grenzen hinweg Frieden in der Welt schaffen. Das war eine großartige Vision, die dennoch einen realistischen Kern hat: Jedes neugeborene Kind ist eine neue Chance zum Frieden. Selbstverständlich ist auch die konkrete Leistung der Kinder und Jugendlichen auf jeder Stufe ihrer Entwicklung von großer Bedeutung: Beim Kleinkind ist es die Mithilfe in der häuslichen Umwelt, im Kinderhaus sind es die Übungen des praktischen Lebens und die Arbeit mit dem Sinnesmaterial zur Förderung der operativen Intelligenz; in der Schule die schnell wachsenden Herausforderungen und der fortschreitende Leistungsaufbau in der Mathematik sowie in der Beherrschung und dem Verständnis der Sprache; nicht zuletzt das höchst komplexe und umfängliche Unternehmen der "Erforschung von Natur und Kultur durch die Kinder und mit den Kindern" (Eckert, Ela: Maria und Mario Montessoris Kosmische Erziehung - Vision und Konkretion, Bad Heilbrunn 2001, S.84) in der Kosmischen Erziehung. Kosmische Erziehung hat mehrere Dimensionen: ökologisch, human-ethisch, politisch-sozial, religiös mit dem obersten Ziel des Friedens. Im Spätwerk hat Montessori ihre inhaltlichen Vorstellungen zum schulischen Lernen in einem auf die Entwicklung von Natur und Menschheit bezogenen "universalen Lehrplan" zusammengefasst (s. auch unten in Abschnitt 7: "Schule des Kindes") (Vgl. Fischer, Reinhard/ Klein-Landeck, Michael/ Ludwig, Harald (Hg.): Die "Kosmische Erziehung" Maria Montessoris, Reihe: Impulse der Reformpädagogik Bd.2, Münster 1999.). In Schweden werden regelmäßig reichseinheitliche Leistungstest an allen Schulen durchgeführt. Dabei schneiden die Montessori-Schulen eher besser ab als der Durchschnitt; ausschlaggebend ist dafür zumal die größere Selbständigkeit der Schülerinnen und Schüler. Auch die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass es in vielen Montessori-Schulen gelingt, eine "Verbindung von Lust und Leistung" zu erreichen, weil das Lernen Spaß macht, wenn es Erfolge bringt und Zufriedenheit nach sich zieht (Vgl. Raapke, Hans Dietrich: Montessori heute - Eine moderne Pädagogik für Familie, Kindergarten und Schule, Reinbek 2000, S.22.f.). | |
3. Stufen der Entwicklung und Erziehung | |
Ähnlich wie Jean Piaget - der zeitweilig Vorsitzender der Schweizerischen Montessori-Gesellschaft war - und etwa zeitgleich mit anderen Entwicklungspsychologen hat Maria Montessori eine Stufentheorie der Entwicklung und dazu entsprechend der Erziehung aufgestellt. Sie hat dafür besonders ihre langfristig-kontinuierlichen Beobachtungen ausgewertet. Ein Charakteristikum ist , dass Montessori den einzelnen Stufen "sensible Phasen" zuordnet. Mit diesem Begriff der sensiblen Phasen ist bei Montessori gemeint, dass es in der Entwicklung des Kindes Phasen, Perioden mit einer besonderen Empfänglichkeit, also Sensibilität für bestimmte Lernvorgänge und Umwelteinflüsse gibt. Diese Phasen - heute öfter auch als sich öffnende "Fenster" bezeichnet - sind "Angebote der Natur" (Heinrich Roth), jetzt und genau zu dieser Zeit besonders leicht bestimmte Lernerfahrungen zu machen und Fertigkeiten zu erwerben. Ein Musterbeispiel ist das Lernen der Sprache: Während einer frühen Reifephase kann das kleine Kind jede Sprache "absorbieren", etwas später kann es neben der Muttersprache auch noch Fremdsprachen in seiner Umgebung wie von selbst lernen. Solche sensiblen Phasen gehen jedoch wieder vorbei, und das etwa zehnjährige Kind kann meistens nur noch durch methodische Anleitung im Unterricht eine fremde Sprache in allen ihren Facetten lernen. Montessori und Piaget
stimmten darin überein (Vgl. Elkind, David: Zwei
entwicklungspsychologische Ansätze: Piaget und Montessori. Psychologie des
20. Jahrhunderts, Bd. VII, Zürich 1978, S.584ff.), Den Stufen der Entwicklung
hat Maria Montessori jeweils die entsprechenden Stufen der Erziehung und
damit bestimmte pädagogische Einrichtungen zugeordnet. (s. Abschnitt 7)
| |
4. Didaktik in der Montessori-Pädagogik | |
a. Beobachtung ist konstitutiver Bestandteil und Bedingung der Didaktik. Die offenen oder verdeckten Bedürfnisse des Kindes haben Vorrang vor den Plänen und Absichten der Pädagogin oder des Pädagogen. Montessori benutzt meistens die Bezeichnung "Leiterin". Diese Bedürfnisse werden durch den Entwicklungs- und Reifestand sowie den bisherigen Lernprozess des je individuellen Kindes bestimmt. Die Beobachtung, die Diagnose kommt also in der Regel vor der Didaktik. Dazu bedarf es professioneller Beobachtungs- und Messverfahren ebenso wie persönlicher Zuwendung und Empathie. b. Im Kinderhaus und in der Grundschule / Primarschule wird die Didaktik zu einem großen Teil durch das didaktische Material repräsentiert. Man spricht von einem "materialisierten Curriculum". Das Begreifen im Gehirn soll über das Ergreifen mit den Händen und überhaupt mit allen Sinnen gelernt werden. Anfangs wird jede Schwierigkeit in einem Material isoliert, um im Gedächtnis klare Strukturen aufzubauen. Die Möglichkeit zur eigenen Fehlerkontrolle in jedem Material soll das Kind dazu führen, seine Fehler selbst zu erkennen, damit es später auch selbst seine Fehler bearbeiten kann. Mit zunehmendem Schulalter und bei zunehmender Fähigkeit zur Abstraktion tritt das didaktische Material in den Hintergrund. Es kann jedoch z. B. bei Schwierigkeiten immer wieder darauf zurückgegriffen werden. Das didaktische Material hat einen bestimmten sachlogischen Aufbau, besonders deutlich in der Mathematik. Diesem Aufbau folgend wird das Material den Kindern präsentiert, in der Regel jedem Kind einzeln. In mindestens drei Schritten lernt das Kind das Material, seinen Zweck und den Umgang damit kennen. Danach sollte es allein mit dem Material weiterarbeiten können. c. Ein zentrales Prinzip der Montessori-Pädagogik ist die Freiarbeit (Dazu Klein-Landeck, Michael: Freie Arbeit bei Maria Montessori und Peter Petersen, Reihe: Impulse der Reformpädagogik, Münster 1998, S.3ff und S.64ff: Dort auch eine gute Auswertung und Zusammenfassung der Publikationen von Albert Heller: Wie frei ist die Freie Arbeit? In: Montessori 32 (1994), H.2, und Christa Wedekind: Freiheitsgrade von Freiarbeitsformen. In: Montessori 33 (1995), H.3/4.). Sie beginnt im Kinderhaus und auch schon früher. Für Montessori war die Freiarbeit eine grundlegende Lernform, die den unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen durch weit-gehende Individualisierung entspricht. Arbeit war für sie vor allem Arbeit an sich selbst als ein elementares Bedürfnis des Menschen, in diesem Sinne heute auch als Selbstverwirklichung bezeichnet. Die Freiarbeit wird zumeist durch gebundenen Unterricht in bestimmten Fächern ergänzt. d. Voraussetzung für die Freiarbeit ist die pädagogisch "vorbereitete Umgebung". Dazu gehört das gesamte nach
pädagogisch-psychologischen Gesichtspunkten arrangierte Inventar und
zunächst das Entwicklungsmaterial im Kinderhaus, aber schon dort beginnend
das im engeren Sinne didaktische Material, das seine Schwerpunkt in der
Schule hat. In diesem regelhaft pädagogisch vorstrukturierten Raum haben
die Kinder einen relativ großen Freiheits-spielraum: Jedes Kind kann
wählen Projektarbeit ist eine in ihrem Anspruch an die Schülerinnen und Schüler höhere aber auch noch mehr Initiative und Selbständigkeit fordernde Form der Freiarbeit. Hier kommt es auf die Bewältigung des gesamten Prozesses von der Ausgangsidee bis hin zu einem vorzeigbaren Arbeitsergebnis an. e. Altersmischung der Spiel- und Lerngruppen. Die Altersmischung ist ein wichtiges Prinzip der Montessori-Didaktik, damit Kinder vermehrt voneinander und kooperativ lernen. In der Regel werden drei Altersjahrgänge entsprechend den im 3. Abschnitt beschriebenen Stufen der Entwicklung in einer Gruppe zusammengefasst. Andere Altersmischungen sind ebenfalls möglich. | |
5. Individuelle Entwicklungsdiagnosen und Leistungsbewertung | |
In der Montessori-Pädagogik hat die individuelle Entwicklung des Arbeits- und Leistungs-verhaltens der Schülerinnen und Schüler Vorrang vor dem Vergleich in der Gruppe oder Klasse. Darum wird für jedes Kind oder jeden Jugendlichen aufgrund kontinuierlicher Beobachtungen und der Dokumentation des Arbeitsprozesses, seiner Fortschritte oder auch Störungen ein Entwicklungs- und Leistungsprofil erstellt. Lehrkräfte und Eltern sowie gegebenenfalls auch andere Fachkräfte beraten in der Regel gemeinsam mit dem Schüler oder der Schülerin über den aktuellen Stand sowie die nächsten Schritte und Maßnahmen. a. Leistungsbewertung ist ein Teil des Lernprozesses. Lernen und Leisten sind auch von den Beurteilungsformen abhängig. Es ist auf vielfache Erfahrung in Montessori-Schulen gestützt und es ist eine Erkenntnis der Lernpsychologie, dass Kinder und Jugendliche gewillt sind, viel zu leisten, wenn sie (in einem vorgegebenen weiten Rahmen) ihren Interessen und Bedürfnissen nachgehen können. Sie sind zu Leistungen motiviert, wenn sie Zusammenhänge erkennen können und ihnen nicht nur Einzelstücke vorgeführt werden, die sie dann abrufbereit halten müssen. Sie arbeiten zudem konzentrierter, wenn sie über ihre Zeit verfügen und mitbestimmen, wie lange sie an einer Arbeit bleiben können. b. Wer seine Leistung selbst bewerten soll, muss seine Fehler erkennen lernen. Zu der Unabhängigkeit, die junge Menschen nach Montessoris Vorstellung erreichen sollten, gehört, dass sie lernen, ihre Leistungen selbst zu bewerten. Darum hat sie vor zu viel Lob und Tadel gewarnt, denn Lob kann Misserfolgsängstliche abhängig machen von der Zustimmung anderer und Tadel bessert selten. Die eigene Leistung einzuschätzen wird in der Montessori-Pädagogik schon früh geübt. Beim Sinnesmaterial ist jeweils die Möglichkeit der eigenen Fehlerkontrolle durch das Kind mit eingebaut. Auch auf allen weiteren Stufen und bei jedem Schritt soll und darf das Kind seine Fehler selbst entdecken, sie selbst bearbeiten und verbessern. Das Ziel ist: Die Lernenden kontrollieren ihre Arbeit selbst, sie korrigieren ihre Fehler und verbessern dabei sich selbst. c. Alle Menschen machen Fehler, aber sie wachsen auch an ihren Fehlern. Montessori fand: Die Erkenntnis, dass wir Fehler machen und auch kontrollieren können, sei eine der großen Errungenschaften der psychischen Freiheit. Dagegen führten Zensuren und Bewertungen durch andere zu einer Verminderung der Energie und des Interesses. Auch von Konkurrenz oder Wettbewerb hielt sie nichts; früh gelernte Rivalität verschwinde nie wieder und bleibe ein Potenzial zum Unfrieden (Vgl. Ludwig, Harald/ Fischer, Christian/ Fischer, Reinhard (Hg.): Leistungserziehung und Montessori-Pädagogik, Reihe: Impulse der Reformpädagogik Bd.5, Münster 2000.). In Gesellschaften, die vielen empirischen Ergebnissen zum Trotz an der Selektion durch "Sitzenbleiben" oder "Zurückstufen" sowie der Konkurrenz (Vgl. u.a. "PISA 2000 - Basiskompetenzen ... im internationalen Vergleich", Opladen 2000, sowie "Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich", Opladen 2002. Vgl. besonders beim Ländervergleich Abschn.2.4: Regionale Unterschiede in der Bildungsbeteiligung, S.49ff.) als unverzichtbar festhalten, können sich Montessori-Schulen einem solchen Druck schwerlich widersetzen und müssen Kompromisse eingehen. | |
6. Religiöse Erziehung | |
Eine zentrale Stellung im Denken und in der Praxis Maria Montessoris nimmt die religiöse Erziehung ein (Vgl. dazu Montessori, Maria: Gott und das Kind, Kleine Schriften Bd.4, 3. Aufl., Freibrug 1995.). Sie findet ihre Basis in ihrer Anthropologie und in ihrem Verständnis der Welt als Schöpfung (s. "Kosmische Erziehung"). Montessori geht davon aus, dass Religion zu den fundamentalen Bedürfnissen des Menschen gehört. In diesem Zusammenhang meint "Religion" sehr allgemein die Neigung und die Fähigkeit, über das Vorfindliche, materiell Greifbare hinaus nach Sinn und Wert der Welt und des Menschen, nach Gerechtigkeit und Vertrauen zu fragen und dabei offen zu sein für Transzendenz. Dieses Bedürfnis kann sich inhaltlich in vielen Religionen konkretisieren. Montessori gab allgemeine Hinweise für eine religiöse Erziehung. In Indien führte sie dazu einen Kursus für Angehörige unterschiedlicher Religionen durch. Sie selbst war katholische Christin. Bei religionspädagogischen Versuchen in Barcelona entwickelte sie ein Konzept, das die Kinder in die Praxis gelebten katholischen Glaubens einführt und einübt, vornehmlich in die Feier der Messe. Dafür entwickelte sie ein "Atrium", einen Raum als "Vorhalle des Glaubens", in dem Kinder diese religiöse Praxis erleben, nach-vollziehen und nach-denken konnten. Diese Erkenntnisse Montessoris sind in unsere Gegenwart fortzuschreiben. Einmal geht es um das Grundverständnis von "Religion". Hier stellt sich die Aufgabe, die Fähigkeit zum mehrdimensionalen Empfinden und Denken zu fördern, etwa durch eine qualifizierte Symbolerziehung. Zum anderen muss die Praxis der religiöse Erziehung neu bedacht werden: Viele junge Menschen erleben die von Montessori noch vorausgesetzte Einheit geprägter Religiosität im Raum der Kirche nicht mehr. Wir leben in einer offenen, multireligiösen Gesellschaft. Vielleicht braucht unsere Zeit ein "Atrium", das allen Kindern die Möglichkeit gibt, sich in die mitgebrachte, aber auch in andere Religionen einzuleben und eigene Ausdrucksformen zu finden. Die Bedeutung Montessoris für heutige religiöse Erziehung liegt in der Sensibilisierung Heranwachsender für die Tiefendimension der Wirklichkeit und in der konsequent lebensweltlichen Ausrichtung. Dazu tragen die Prinzipien ihrer allgemeinen Pädagogik bei. Eine wichtige Rolle spielt hierfür ferner die Stilleerziehung Montessoris. Das kontemplative Element ist in ihrer Pädagogik für alle Entwicklungsstufen neben dem Aktivitätsprinzip von großer Bedeutung. Im einzelnen sind unterschiedliche Ansätze religiöser Erziehung im Anschluss an Montessoris Pädagogik entwickelt worden (Vgl. hierzu Kabus, Andrea: Zur Rezeption der Montessori-Pädagogik in der Religionspädagogik, Würzburg 2001.). | |
7. Pädagogische Einrichtungen | |
Die 1. Phase der Entwicklung und Erziehung umfasst das (Entwicklungs-) Alter 0-6 Jahre. Sie wird in zwei Teilphasen unterteilt: 0-3 Jahre und 3-6 Jahre. Nach Montessoris Auffassung, aber auch nach heutigem Forschungsstand werden beim Kleinkind die Fähigkeiten zur Bewegung, Wahrnehmung, Sprache, Sozialität usw. grundlegend aufgebaut. Durch eine besonders aufnahmeintensive, unbewusste Intelligenz - "absorbierender Geist"- entstehen nachhaltige psychische und geistige Strukturen, deren Aufbau besonderer pädagogischer Aufmerksamkeit bedarf. | |
Familie/ Kinderkrippe/ Spielgruppe (0-3 Jahre) | |
Der wichtigste Ort für das Aufwachsen und die Erziehung des ganz kleinen Kindes war für Montessori und ist nach wie vor die Familie. Hier soll es Pflege und emotionale Zuwendung finden, aber auch hinreichende Gelegenheit zur "Welterfahrung" gemeinsam mit den Erwachsenen. Montessori hat gewarnt, das Kind "zum Gefangenen des Kinderzimmers" zu machen. Nach Montessoris Rückkehr aus Indien wurden erste "Kinderkrippen" (Die Bezeichnung "Krippe" für eine Tagesstätte für Kleinstkinder unter drei Jahren ist weit verbreitet. Deshalb wird sie trotz ihrer Problematik hier verwandt. Manchmal spricht man auch von "Krabbelstuben".) nach Montessori-Prinzipien für Kleinstkinder von etwa 1 Jahr an eingerichtet. Das Interesse an der Frühförderung und die Zahl solcher Einrichtungen nimmt schnell zu. Neuerdings bilden sich vermehrt Montessori-Spielgruppen, in denen sich Eltern mit ihren Kindern ein- oder zweimal wöchentlich treffen, um die Kinder zu fördern und ihnen soziale Erfahrungen zu ermöglichen. In Familie, Kinderkrippe und Spielgruppe stehen im Vordergrund: - Beobachten und Fördern der
Bewegungen des Kleinkindes: Hand, Gleichgewicht, Laufen. Didaktik: "Übungen des praktischen Lebens" , Bewegungsspiele und -übungen zur Förderung der Grob- und Feinmotorik, Sprach- und Singspiele, viel Erzählen, Vorlesen usw., Körperkontakte und Sprache als Ausdrucksmittel emotionaler Zuwendung. Durch Aktivität und Reaktivität der unbewussten Intelligenz ("absorbierender Geist") bei Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit der Umgebung entwickeln sich grundlegende und weiterführende Potenzialitäten. Die spezifische Qualität dieser Umgebung hat dabei eine entscheidende Bedeutung. "Kinderhaus" (3-6 Jahre) In dieser Entwicklungs- und Reifephase wandelt sich allmählich die unbewusste Rezeption und Intelligenz zur bewussten und operativen Intelligenz vor allem durch aktives Handeln. Das Kinderhaus (italien. "casa dei bambini") ist eine vorschulische Einrichtung und steht in Analogie zum Kindergarten. Das Kinderhaus hat in der Montessori-Pädagogik die längste Tradition (seit 1907) und den größten Verbreitungsgrad. In Kinderhäusern wie grundsätzlich in allen Montessori-Einrichtungen wird der Integration von behinderten Kindern und Jugendlichen eine hohe Bedeutung beigemessen. Die individuellen Lern- und Arbeitswege der Kinder haben sich dafür in besonderer Weise als geeignet erwiesen. In Verbindung von Kinder- und Jugendmedizin und Montessori-Pädagogik ist ein Ausbildungs-zweig für Montessori-Heilpädagogik konzipiert worden, der sich vom Kinderzentrum München aus in eine Reihe von vor allem osteuropäischen, aber auch asiatischen Ländern ausgebreitet hat. (Internationale Akademie für Entwicklungs-Rehabilitation/ München) Im Kinderhaus stehen im
Vordergrund: Didaktik repräsentiert sich
hier inhaltlich im wesentlichen in der "vorbereiteten Umgebung". Die
pädagogischen Interventionen konzentrieren sich auf die Einführung in den
Gebrauch und den Zweck der einzelnen Materialien und zwar in der Regel für
jedes Kind gesondert. Kinderhaus und Schule stehen bei Montessori in engem institutionellen Zusammenhang. Im Idealfall (vgl. die achtjährige Basisschool in den Niederlanden) gibt es einen kontinuierlichen Bildungsgang vom 3. bis zum 12. Lebensjahr. "Schule des Kindes": Grundschule/ Primarschule (6- 12 Jahre) Die "Schule des Kindes" ist nicht die Schule für das Kind. Die Kinder dieser Stufe sind nach Montessori ebenso wie nach Kenntnis heutiger Entwicklungspsychologen besonders wissbegierig; ihre "hungrige Intelligenz" brauche reichlich "Futter". Sie wollen alles wissen über diese Welt, und sie sind nun in der Lage, sich jenseits ihrer konkreten Wahrnehmung zusammen-hängende Vorstellungsbilder von der Welt und ihren Teilen zu schaffen. Die Intelligenzentwicklung geht in diesem Alter somit im wesentlichen zwei Wege: Zur Abstraktionsfähigkeit und zur Einbildungs- / Vorstellungskraft. Hier wird "der Keim zur Wissenschaft" gelegt. Oft werden nach Montessoris Auffassung die Kinder dieses Alters jedoch unterfordert oder falsch gefordert. Im Vordergrund steht in
dieser Stufe der Erwerb solider Basiskompetenzen im Lesen, Schreiben und
in der Mathematik sowie in der naturwissenschaftlichen, kulturellen,
sozialen und politischen Elementarbildung. Als Leitidee für die Schule des
Kindes in dieser Entwicklungs-stufe gilt nach Montessori die "Kosmische
Erziehung". Der Begriff ist in der Fachsprache weithin unbekannt. Bei der
"Kosmischen Erziehung" geht es Von daher ist die Kosmische Erziehung - trotz vieler inhaltlicher Gemeinsamkeiten - nicht identisch mit dem Sachunterricht in der Grundschule. Jedoch ist die Nähe zu den heutigen Vorstellungen der Ökologie-Bewegung unverkennbar; Montessori hat im Kontext der Kosmischen Erziehung selbst den Ökologie-Begriff verwendet (Vgl. Montessori, Maria: "Kosmische Erziehung", 5. Aufl., Freiburg 2002 sowie die oben in Anmerkung 4 und 5 genannten Werke.). In der Praxis müssen oft Kompromisse geschlossen werden. Insbesondere müssen Montessori-Schulen sich curricular insoweit dem Regelschulwesen anpassen, dass für die Schülerinnen und Schüler jederzeit ein Übergang zu einer Regelschule möglich ist. Didaktik: Die "Schule des Kindes" soll mit einem großen, weit gefächerten Angebot auf den Wissensdurst sowie die Forscher- und Abenteuerneugier der Kinder eingehen. Die Kinder sollen ihren geistigen, sozialen und kulturellen Aktionsradius erweitern können. Mit der Ausweitung des Weltbildes soll der Übergang zur Abstraktion vollzogen werden können. In der vorbereiteten Umgebung - modern: der Lernkultur - der Schule wie in den Schritten nach draußen kann soziales und moralisches Bewusstsein entstehen und mit der besonderen Sensibilität dieses Alters für Gerechtigkeit können Kinder die Fähigkeit entwickeln, eigenes und fremdes Handeln zu beurteilen (Zur Grundschulpädagogik Montessoris vgl. Stein, Barbara: Theorie und Praxis der Montessori-Grundschule, Freiburg 1998 sowie neuerdings: Ludwig, Harald: Montessori-Schulen und ihre Didaktik, Baltmannsweiler 2003 ).
Montessoris "Erdkinderplan" ist ein Plan zur Reform der Sekundarstufe. Er fällt in ein (Entwicklungs-)Alter im "Übergang von der Mentalität des Kindes - das innerhalb der Familie lebt - zur Mentalität des Erwachsenen, der in der Gesellschaft leben muss". Es sei das "eine besonders empfindliche Periode" (landläufig: Pubertät), in der die jungen Menschen gleicher-maßen zu fördern und zu schützen seien (Der "Erdkinderplan" ist abgedruckt in: Montessori, Maria: Von der Kindheit zur Jugend, Freiburg 1966, und in: "Kosmische Erziehung", 5. Aufl., Freiburg 2002. Daraus die folgenden Zitate. Vgl. ferner: Raapke, Hans-Dietrich: Montessoris Erdkinderplan zur Reform der Sekundarstufe - Ein Kommentar (2.erw. Aufl.) Oldenburg 1998. ). Das Konzept "Erdkinderplan"
beschreibt in einer Lebensform auf dem Land ein "Studien- und
Arbeitszentrum" bestehend aus Diese "Erfahrungsschule des sozialen Lebens" hat Ähnlichkeiten mit den Landerziehungsheimen und Produktionsschulen jener Zeit. Die Möglichkeit für die Jugendlichen, selbst Geld zu verdienen, soll nach Montessoris Vorstellung ihre soziale Unabhängigkeit stärken. Weil die Jugendlichen durch die Arbeit auf dem Land und mit der Erde von den Ursprüngen her in die Kultur eindringen, spricht Montessori in ihrem Konzept von "Erdkindern". Diese werden aber zudem - ganz modern - in die fundamentalen Mechanismen der Ökonomie: Produktion und Warenaustausch eingeführt. "Die Arbeit mit der Erde ist der Zutritt zum unbegrenzten Studienweg der Naturwissenschaft und Geschichte". Entscheidend ist die Vermittlung der Realität des Lebens auf der Basis sozialer Grunderfahrungen. Der Studien- und Arbeitsplan - ein Rahmenplan für die weiterführende Schule - umfasst drei große Bereiche: "Moralische Pflege, Leibespflege, Programm und Methoden". "Moralische Pflege": Darunter versteht Montessori die Pflege der Beziehungen zwischen den Jugendlichen, ihren Lehrern und der Umgebung (modern gesagt: Kommunikation und Pflege der Sozialkompetenzen). Von den Lehrkräften erwartet Montessori, den Jugendlichen gegenüber Achtung zu wahren, nie ihre Würde zu verletzen und sie keinesfalls wie Kinder zu behandeln. Die Jugendlichen brauchten genügend Freiheit für individuelle Initiativen, die freilich bestimmten Regeln unterworfen seien. Auch hier also das Montessori-Prinzip: Kinder und Jugendliche arbeiten in freier Initiative, aber nach expliziten oder immanenten Regeln. Wichtig: Dem Bedürfnis junger Menschen nach Einsamkeit und Ruhe muss entsprochen werden. Der "Leibespflege" widmet die Ärztin Montessori besondere Aufmerksamkeit. Wegen des vehementen körperlichen Wachstums der Jugendlichen - mit seinen psychischen Komponenten - sei medizinische Betreuung geboten. Auf die Ernährung und weit mehr sportliche Betätigung müsse geachtet werden; auch zur Suchtprävention gegen Alkohol und Tabak hat Montessori damals schon Überlegungen angestellt. "Programm und Methoden" zielt
am meisten auf schulischen Unterricht und zwar in drei Richtungen: Die "Erfahrungsschule des sozialen Lebens" sollte nach Montessoris Willen eine Schule für alle sein. Für die Vorgehensweise gilt: "Die besten Methoden sind diejenigen, die beim Schüler ein Maximum an Interesse hervorrufen, die ihm die Möglichkeit geben, allein zu arbeiten, selbst seine Erfahrungen zu machen und die erlauben, die Studien mit dem praktischen Leben abzuwechseln." In Deutschland hat die Umsetzung der Montessori-Pädagogik in der weiterführenden Schule erst in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren einen intensiveren Aufschwung genommen. Zur Zeit gibt es vier Gesamtschulen und vier Gymnasien, die sich in ihrer Arbeit ausschließlich auf die Pädagogik Maria Montessoris beziehen und zumindest Teile ihrer Erfahrungsschule des sozialen Lebens umsetzen. In Nordrhein Westfalen und in Bayern kommen dazu noch ungefähr fünfzehn Haupt- bzw. Volksschulen, teilweise in privater Trägerschaft. Daneben existieren jedoch noch eine ganze Reihe von weiterführenden Schulen, die entweder Montessori-Zweige, - Klassen oder auch nur Elemente ihrer Pädagogik, wie z.B. Freiarbeit, in ihr Schulkonzept aufgenommen haben. All diesen Schulen gemeinsam ist, dass sie die Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung des Schülers mit dem Ziel der Persönlichkeitsbildung in den Mittelpunkt stellen. Das bedeutet vor allem, dass Freiarbeit als didaktisches Prinzip, aber auch Projekt- oder projektorientiertes Lernen und auch Handwerk regelmäßig - möglichst täglich - durchgeführt werden. Oft ist jedoch trotzdem der Bereich der "Studien" dominant, weitere Elemente einer Erfahrungsschule des sozialen Lebens, wie oben dargestellt, fehlen. Die Entwicklung der Montessori-Pädagogik in der weiterführenden Schule schreitet kontinuierlich voran. | |
8. Hinweise auf einführende Literatur | |
Es gibt eine große Zahl von Schriften, die in die Pädagogik Maria Montessoris einführen. Empfehlenswert sind vor allem folgende: 1. Hebenstreit, Sigurd: Maria
Montessori - Eine Einführung in ihr Leben und Werk, Freiburg 1999 |